Burger mit Menschenfleischgeschmack? Gewöhnungsbedürftig. (Stockfoto: Pexels: Ron Lach)
31. Oktober 2022
Kannibalismus: Menschenfleisch in aller Munde
True Crime zum Einschlafen. Serienmörder auf Streamingdiensten. Horror verkauft sich gut. Das dachte sich vergangenes Jahr auch die schwedische Veggie-Marke Oumph! Pünktlich zu Halloween serviert der Pflanzenfleischhersteller Kannibalismus: Einen Burgerpatty mit Menschenfleisch-Geschmack.
TRIGGERWARNUNG
DIESER BEITRAG BEHANDELT NEBEN HARMLOSEN VEGANEN BURGERPATTIES AUCH GEWALTVERBRECHEN UND KANNIBALISMUS UA. AM BEISPIEL DES SERIENMÖRDERS JEFFREY DAHMER.
At Oumph we turn plants into any mouthwatering meat you can imagine. This Halloween we bring you the scariest plant based food – ever. Plant based HUMAN MEAT. So be scared. Do you dare to taste it?
– Oumph! HUMAN MEAT Burger
Geschmacksrichtung Menschenfleisch
Die Sonderedition stand allerdings exklusiv an Halloween 2021 im schwedischen Stockholm zum Verkauf: „Sonst wäre es ja creepy!“ Letztlich war die Aktion sowieso nur ein gut gesetzter Marketing-Gag. Das groteske Produkt löste genug Entsetzen aus, um Reichweite zu generieren. Viel mehr ist an dem veganen Menschenfleisch auch nicht dran. Im Entwicklungsprozess seien „keine Menschen zu Schaden gekommen“, verlautete das Unternehmen.
Spätestens seit dem “Kannibalen von Rotenburg”, Armin Meiwes, wissen wir: Menschenfleisch soll auch nicht anders schmecken als Schweinefleisch. Etwas herber vielleicht, verrät der verurteilte Kannibale in einem Interview. Aber es komme eh darauf an, womit man es kombiniert. „Ich habe das Steak von Bernd kurz angebraten, mit Salz, Pfeffer, Knoblauch und Muskat gewürzt. Dazu gab es Prinzess-Kartoffelbällchen, Rosenkohl und eine grüne Pfeffersauce.“ Die Zusammensetzung und der Geschmack von Fleisch ist (nicht nur beim Menschen) von der Nahrungsaufnahme und Bewegungsintensität des zu Schlachtenden Individuums abhängig. „Das Tier ist, was es frisst“ titelt Deutschlandfunk Kultur in diesem Beitrag.
Konsistenz, Geschmack und Optik eines veganen Burgerpatties
Sebastian Leges verrät in ZDF besser essen: „Um eine Textur zu erschaffen, die Fleisch ähnlich ist, braucht man natürlich ein alternatives Protein, also eine Eiweisquelle.“ Leges kreiert diese mithilfe von Erbsen- und Weizenproteinen. Pflanzenproteine werden ausgewaschen und so industriell zu Pulver verarbeitet. So kommen sie in den Patty und sorgen für Struktur und den gewissen Biss. Herkömmliche Gewürze wie Paprika, Sellerie, Rote Bete, Zwiebelgranulat, Salz, Knoblauch, Pfeffer und der Geschmacksverstärker „Umami“ (Aroma aus Hefeextrakt) imitieren richtig kombiniert eine Art Fleischgeschmack. Außerdem sorgt Eisenpulver für einen „blutigen“ Geschmack. Damit sich auf dem Grill die einzigartigen Röstaromen entwickeln, würzt Leges den Patty mit Sojasoße und Raucharomen. Aus dem grauen Gemenge entsteht dann eine „rot-fleischige“ Masse mit faserähnlicher Struktur. Rote Bete Pulver sorgt für den rosa Fleischlook. Fleisch ist mit Fett durchzogen, das auch den Geschmack liefert. Für die vegane Variante kommt hier Kokosfett zum Einsatz.
Fleischersatzprodukt für Kannibalen
Henrik Åkerman, Global Brand Leader bei Oumph! erklärt, dass das Unternehmen es sich zur Aufgabe gemacht habe, die Art und Weise, wie sich Menschen ernähren, zu verändern. Mit diesem Schocker, wollte Oumph! demonstrieren, dass jede (!) Art von Fleisch aus rein pflanzlichen Produkten herstellbar ist und dafür „Niemand“ sterben muss. Der „Menschenfleisch“-Burgerpatty besteht aus Soja-, Pilz- und Weizenprotein und pflanzlichen Fetten sowie einer unbekannten Gewürzmischung. Gruseliges Marketing war hier nur das messerscharfe Werkzeug, um die Menschen wachzurütteln.
Kannibale von Milwaukee: „Ich will dein Herz essen“
Spätestens seit der True Crime Serie „Dahmer“ ist das Thema Menschenfleisch wieder in aller Munde. In der Netflix Produktion rollt Regisseur Ryan Murphy den realen Fall um den Serienmörder Jeffrey Dahmer neu auf. Es ist die fiktionale Nacherzählung der Geschichte eines der berüchtigten Serienmörders der Neuzeit. Ende der Siebzigerjahre hat der sogenannte „Kannibale von Milwaukee“ (oder auch „Monster von Milwaukee“) in einem Zeitraum von 13 Jahren 17 Männer und Jugendliche ermordet. Die meisten seiner Opfer waren schwarz und stammten überwiegend aus der Homosexuellenszene.
Am 22. Juli 1991 deckte die Polizei von Milwaukee endlich die entsetzlichen Geheimnisse auf, die Jeffrey Dahmer für viele Jahre versteckt hatte. In seiner Wohnung im Oxford Appartement Complex fand sie eine Kammer unvorstellbaren Horrors: Abgetrennte Köpfe und ein menschliches Herz in der Gefriertruhe. Hände und Füße im Suppenkessel. Schädel, die in einem Aktenschrank verstaut waren. Und ein Fass voller Säure, in denen sich Leichenteile auflösten. Dahmer hatte seine Opfer in sein Appartement gelockt, betäubt, ermordet, hatte Sex mit ihren leblosen Körpern, fotografierte sie und bewahrte Körperteile, Knochen und Schädel auf. Nach seiner Verhaftung gestand Dahmer, ein Herz sowie Muskelfleisch von dreien seiner Opfer gegessen zu haben. [Lesenswert: Stephen M. Glynn, If Dahmer’s Not Crazy, Who Is?, NAT’L L.J., Mar. 9, 1992, at 13]
Kannibalismus? Was ist das?
Unter Kannibalismus versteht man den Verzehr von Menschenfleisch durch Menschen. Wenn es also Menschen, wie Dahmer, gibt, die offensichtlich Lust auf Menschenfleisch haben, könnte die vegane Aternative von Oumph! dann nicht der perfekte Fleischersatz sein? Nein. Kannibalismus ist nicht geschmacklich motiviert. Es hat einen Grund, warum der vegane Burgerpatty für so viel Aufregung gesorgt hat. Denn Menschen, die Menschen essen, das ist in unserer Kultur ein absolutes No Go. Allein der Gedanke daran löst bei psychisch unauffälligen Menschen nichts als Ekel aus.
Der Kriminalbiologe Mark Benecke erklärt in “True Crime mit Mark Benecke: Kannibalismus“, warum Kannibalismus unserer Gesellschaft so sehr an die Nieren geht. Der Grad des Verbrecherischen sei bei Kannibalismus nämlich meist sogar verhältnismäßig niedrig. Oft liege sogar Einvernehmlichkeit vor (nicht vom Gericht anerkannt), wie 2001 im Falle des „Kannibalen von Rothenburg“: Sein Opfer Bernd Brandes hatte sich freiwillig zum Verzehr angeboten und auf Kamera seinen Wunsch zu Sterben dokumentiert, bevor er gemeinsam mit Armin Meiwes Teile seines Körpers in der Pfanne anbriet.
Menschenfleisch essen – aber warum?
Auch wenn der Profiler im Interview mit Armin Meiwes ihm unbedingt Mummy-Issues anhängen will, wiederholt der Kannibale doch immer wieder beständig, dass der Verlust seines Vaters in der Kindheit für ihn das einschneidendste Erlebnis war. Nach dessen Weggehen und dem seines Bruders habe ihm eine männliche Bezugsperson gefehlt und mit den Jahren entstand in seiner Fantasie der Wunsch nach einem permanenten Begleiter. Die Unfähigkeit echte Beziehungen aufzubauen resultierte in der Vorstellung sich einen solchen einzuverleiben und so nie mehr einsam sein zu müssen, weil er einen Teil von ihm bei sich tragen würde. Woher kam diese Idee? Er nennt den Film Robinson Crusoe und beschreibt wie dieser seinen Schiffbrüchigen Freund einerseits aus Hungersnot aber vielmehr aus „romantischen“ Gründen gegessen habe. Um ihn in sich weiterleben zu lassen.
Einverleiben – der “ultimative” Hautkontakt
Menschen suchen Sicherheit in Bindungen. Das Zeigen von Zuneigung und Nähe funktioniert nicht nur bei Babys über Hautkontakt sondern auch in erwachsenen Beziehungen durch andere Formen der gegenseitigen Liebkosung. Und hier haben wir, laut Benecke, auch den Grund, warum Kannibalismus uns erstarren lässt: Die romantische Vorstellung von Nähe und Intimität, die vor allem im frühsten Kindesalter, aber auch später in Beziehungen oral erfahren wird, wird durch die Idee des Verspeisens der/des Geliebten gehörig gestört. So widert uns die Grausamkeit des Kannibalen an, der nun mal an einer psychischen Störung leidet. Der Kannibale suche im „ultimativen Hautkontakt“, dem Essen der/des Anderen, die ultimative Gewissheit einer sicheren Bindung, sagt Benecke. Denn durch die vorliegende Bindungsstörung sähen Kannibalen keine andere Möglichkeit (Vertrauen in) Beziehungen herzustellen.
Kannibalismus als psychologisches Spektrum
Die Welt ist nicht einzuteilen in Gut und Böse: Wie alles im Leben sei auch Kannibalismus eine Skala. Der tatsächliche Mord an einem Menschen und der Verzehr dessen Fleisches sei dabei nur die dunkelste Seite des Spektrums. Zwischen der heilen Welt und dem grausam tötenden Kannibalen läge beispielsweise noch die absurde Vorstellung, dass es okay sei Tiere zu essen. Das ist wiederum die Aussage, die Oumph! mit seinem Menschenfleisch-Schocker erreichen wollte. Als Allesfresser müssen wir uns hinterfragen: Warum sind wir völlig fein damit Tierfleisch zu konsumieren, aber bei Menschenfleisch ist der Aufschrei groß. Ist nicht beides irgendwie grotesk und vermeidbar, wenn man psychisch stabil ist?
„I dont need you to say sorry I need to know why.“ – Lionel Dahmer
Spiegel Kultur titelt zur Sache „Dahmer“: “Kannibalismus, Nekrophilie und Daddy-Issues“ und liegt damit garnicht so falsch. Neben psychischen Störungen wie Borderline und shizotypischen Persönlichkeitsstörungen, wurden bei Dahmer Störungen der Sexualpräferenz, wie Paraphilie bzw. Nekrophilie in Verbindung mit einer gewissen Form des Kannibalismus diagnostiziert. Dennoch erklärte ein Geschworenengericht in Milwaukee den Serienmörder für zurechnungsfähig und verurteilte ihn zur höchstmöglichen Strafe von 15 aufeinanderfolgenden lebenslangen Freiheitsstrafen ohne Aussicht auf Entlassung. Das war in Dahmers Interesse, der sich des Ausmaßes seiner Taten durchaus bewusst war. Er wünschte sich bei seiner Verurteilung den „Tod für sich selbst“.
I know now that I was sick.
Jeffrey Dahmer bei seinem Abschlussstatement vor Gericht
Der Serienmörder gab zu, er habe geahnt, krank oder böse oder beides zu sein. Nun sei er sich sicher, dass er krank sei. Wisse, wie viel Leid er verursacht habe. Anders als andere Serienmörder besitzt Dahmer eine fügsame, zurückhaltende Ausstrahlung. Schauspieler Evan Peters beschreibt Dahmer als „nahezu bedauernd“, als ob ihm seine Schuld bewusst gewesen wäre. Er wirke verwirrt und distanziert von dem was er getan hat. Der »American Horror Story« Star wirft in seiner Rolle des Jeffrey Dahmers das Bild eines schüchternen, sozial unbeholfenen, aber gepflegt und attraktiv wirkenden jungen Mannes auf die Leinwand. Um den Serienmörder authentisch zu verkörpern musste Peters sich „selbst an sehr dunkle Orte bringen und dort für längere Zeit bleiben”. Das sei eines der schwierigsten Dinge gewesen, die er in seinem Leben tun musste.
Traumata und Bindungsstörung
Denn auch bei Dahmer zeigt sich das Ausmaß einer starken Bindungsstörung. Durch die, in seiner Kindheit erlebten, Traumata wurde der Junge seltsam und war kaum zu sozialen Kontakten fähig.
„The deaf mute guy. I wanted to keep him with me. So I gave him a drink with pills in it. He fell asleep. I wanted to see if I could think of a way to keep him with me without killing him. This is gonna sound bad… but took the drill out while he was asleep, drilled a small hole in his skull, to see if I could make it so that he would uh… just sort of be like in a zombie state“.
Jeffrey Dahmer bei einer Anhörung vor Gericht
Dahmer beschreibt in einer Anhörung vor Gericht eine Art Lobotomie, die er in seinem Schlafzimmer erfolglos durchgeführt hatte. Um sein Opfer für immer behalten zu können. Twisted. Aber kriminalpsychologisch nachvollziehbar. Dahmer wollte seinen Opfern „keine Schmerzen“ zufügen, sagt er immer wieder. Er habe sie deshalb betäubt. Dass es Schmerzen gibt, die über Betäubungen hinausgehen, das konnte sein Verstand nicht erfassen.
Das Problem am Kannibalismus ist das Töten
Der Kriminalpsychologe Dr. Eric W. Hickey versucht sich in “Criminal Psychologist Explains The Twisted Mind Of Jeffrey Dahmer” an einer Traumata-Analyse des Serienmörders. Letztlich sei das Verzehren des Fleisches seiner Opfer nur die letzte Eskalation seine Wahns gewesen. Den verzweifelten Wunsch zu stillen, seine Lieblingsopfer für immer bei sich zu behalten. Die ihm einzig mögliche Bindung herzustellen. Denn die Fähigkeit zu Vertrauen oder Liebe zu empfinden war Dahmer wohl nicht gegeben. Der Serienmörder hat ein Herz und Muskelfleisch seiner Lieblingsopfer gegessen. Eine wahre Geschichte über ein sich selbst überlassenes Kind, das als einsamer Jugendlicher mit dem Hobby heranwächst Tiere auszuweiden, schließlich sexuellen Gefallen daran findet und sich über die Jahre zum Serienmörder entwickelt.
Angst sich jemandem Anzuvertrauen
Weil er sich aus Angst über seine psychischen Störungen zu reden immer tiefer in seinen Fantasien verirrt hat und diese irgendwann mit der Realität verschwammen. Oder kollidierten. Bis er es nicht mehr geschafft hat, ihnen nicht nachzugeben, sie nicht auszuleben. Das Problem am Kannibalismus ist letztlich das Töten. Aber, „beim Ausleben einer Fantasie erlebt man nie die erwartete Erfüllung“, sagt Armin Meiwes, der Kannibale von Rothenburg. „Was auch immer man sich vorstellt, ist in der Realität grundsätzlich anders.“ Jeder, der kannibalische Ambitionen habe, solle sich Rat und Hilfe suchen, denn „wenn man unbefangen über Dinge sprechen kann, muss man sie nicht machen“. Das Leben in der Fantasiewelt müsse mit der Realität durchbrochen werden. Um Mord und Totschlag zu verhindern.
„The world of love wants no monsters in it”
Auch Hollywood-Star Armie Hammer wurden 2021 kannibalische Neigungen vorgeworfen. Dem Schauspieler wurde im Jahr 2021 von drei angeblichen Ex-Freundinnen Vergewaltigung, psychische Folter und Kannibalismus vorgeworfen. Beim amerikanischen Streamingdienst Discovery+ ist jetzt die Minidokuserie „House Of Hammer“ über das Leben und die Skandale rund um die Familie des „Call me by your name“-Protagonisten erschienen. „Call me by your name“ ist ein intensives, körperliches und romantisches Drama und dreht sich um die Frage wie (homosexuelle) Liebe gelebt werden darf und kann. Was Liebe ausmacht, wie sie empfunden wird und wie Menschen unterschiedlich lieben oder mit Trennung umgehen. Es geht nicht um Kannibalismus, aber seit die Anschuldigungen gegen Hammer laut wurden, hinterlassen sie einen bitteren Beigeschmack beim Gedanken an die dargestellte Liebesgeschichte. Man wünscht es niemandem, sich in einen Kannibalen zu verlieben. Absurd ist, dass Hammers Schauspielpartner, Timothée Chalamet, nun ab November in „Bones and All“ selbst einen Kannibalen verkörpert.
Kannibalenliebe: Bones and All
Das Romantik-Horror-Drama behandelt die kannibalischen Bedürfnisse einer jungen Frau, die sie ins Exil getrieben haben. Sie hasst sich für das, was sie tut. Dafür was sie ihrer Familie und ihrem Identitätsgefühl damit angetan hat und wie es ihren Platz in der Welt bestimmt. „The world of love wants no monsters in it”: „Diese tragische Kernweisheit aus Luca Guadagninos Bones & All, zeichnet das schmerzliche Dilemma seiner, gleichermaßen verletzenden wie verletzten, Protagonisten aus. Trotz der schwer abstreitbaren Wahrheit hinter diesem poetischen Satz scheint das erste amerikanische Werk des Italieners es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sie zu widerlegen.” Der von Blut und Eingeweiden gepflasterte Road-Trip beschäftigt sich mit der Frage, ob es in dieser Welt Platz für die Außenseiter gibt.
Es scheint so, als habe sich die gesamte Pop-Kultur auf die Fahne geschrieben, das Spektrum Kannibalismus besser erforschen zu wollen, es breit abzubilden. Allen Beteiligten geht es auf verdrehte Art um das Erfahren von Liebe. Auch Oumph! hätte gerne einfach mehr Tierliebe und weniger fleischessende Menschen. Der Patty lag einen Tag lang in Stockholms Regalen, er wird also nicht lange in Erinnerung bleiben, aber auf jeden Fall ist der Halloween-Gag ein grusliger Aufhänger für die nachdenklich machende Lagerfeuergeschichte mit Biss.