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RoboFill 4.0 – Flaschenabfüllsystem mit Köpfchen

Interdisziplinäres Forschungsprojekt bringt Industrie 4.0 ins Brau- und Lebensmittelgewerbe

Die Brau- und Lebensmittelbranche – Nachzügler in Sachen 4.0?
Industrie 4.0 – ein Schlagwort, das sich in der Unternehmenswelt etabliert hat und eine zentrale Rolle in der Pressearbeit innehat. Nicht so auf der Brau Beviale 2015 in Nürnberg. Der Begriff ist Ausstellern wie Besuchern natürlich bekannt, doch konkrete Pläne und Umsetzungen gibt es wenig.

Dass die 4. Industrielle Revolution noch nicht richtig angekommen scheint, könnte daran liegen, dass es in der Brau- und Lebensmittelbranche viele mittelständische Unternehmen gibt. Diese schrecken vor den oft kostenintensiven Neuerungen und Investitionen verständlicherweise zurück. Konkrete Nachfragen nach individuell gestalteten und befüllten Flaschen beginnen gerade erst, darin sind sich die Aussteller auf der Messe einig. Dementsprechend ist die Anzahl der Anbieter noch relativ gering.

Die technische Universität München weiß um den Trend der Personalisierung, der nicht nur die Automobil- oder Pharmazieindustrie sondern auch den Markt der Lebensmittelherstellung zunehmend prägt. Dieser Entwicklung folgend, beschäftigt sich ein 30-köpfiges Projektteam seit September 2015 mit einem neuen Abfüllkonzept – RoboFill 4.0.

Für das von der Bayerischen Forschungsstiftung geförderte Projekt haben sich neun Industrieunternehmen und drei Forschungseinrichtungen zusammengeschlossen. Im Vergleich zu starr konfektionierten und gesteuerten Linien der Abfüll- und Getränkeindustrie sollen in diesem Projekt hochflexibel arbeitende und intelligent durch das Produkt gesteuerte Bearbeitungsstationen entstehen.

Entwickelt wird RoboFill 4.0 am Lehrstuhl an der Technischen Universität München. „Neben der Bereitstellung und Entwicklung eines adaptierbaren und flexibel erweiterbaren Abfüll- und Materialflusskonzeptes geht es vor allem um ein dezentrales Steuerungskonzept“, erklärt Stephan Birle, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Brau- und Getränketechnologie. Über eine virtuelle Repräsentanz in der Cloud sollen Kundenwünsche, Produktionsaufträge sowie die zugehörige Produktionsplanung und -steuerung synchronisiert werden. Durch die dezentrale Intelligenz steuere sich der Abfüllvorgang dabei sozusagen selbst.

Abbildung 1
© Technische Universität München
Schematische Darstellung des angestrebten Abfüllkonzeptes für die individualisierte Bereitstellung von abgefüllten Getränken mittels Methoden aus Industrie 4.0.

Die größten Herausforderungen vermutet das Forschungsteam in der Gestaltung der Kommunikationsschnittstellen für den gemeinsamen Datenaustausch zwischen den verschiedenen Anlagenmodulen. „Es ist notwendig einen gemeinsamen Standard zu finden, der die Informationen in der benötigten Art und Menge handhaben kann. Nur so wird eine störungsfreie Verknüpfung mit den cyber-physischen Modulen in der virtuellen Produktionsumgebung in der Cloud mit den reellen Abfüllmodulen möglich“, erklärt Birle. Aus organisatorischer Sicht des Projektmanagements sei daher die Kommunikation und interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen und Industriepartnern eine Herausforderung.

 RoboFill befindet sich derzeit in der Konzeptionsphase. Die Projektpartner definieren die Schnittstellen in anwendungsnahen Use-Cases, sowohl auf der Software- als auch auf der Hardwareebene. Ziel des Forschungsprojektes ist eine Demonstrator-Anlage, die alle Merkmale einer dezentralen Steuerung erfüllt – das heißt eine Abfüllanlage, bei der alle an der Fertigung beteiligten Komponenten miteinander kommunizieren und in der Lage sind, Probleme selbstständig zu erkennen, zu melden und zu lösen. Erste Teilversuche und praktische Tests sind im dritten Quartal 2016 geplant.

 

Fortschritt erwünscht und staatlich gefördert
Laut einer Pressemitteilung der Bayerischen Forschungsstiftung stellt die direkt auf Kundenbelange abgestimmte individualisierte Produktion einen zentralen Pfeiler der vierten industriellen Revolution dar. Die derzeitig verfügbaren Abfüllkonzepte der Getränkeindustrie seien hierfür trotz der großen und unumstrittenen Marktperspektiven noch nicht vorbereitet. Mit rund 880 Tausend Euro unterstützt das staatliche Förderprogramm deshalb das völlig neuartige, flexible Automatisierungskonzept zur industriellen Bereitstellung von kundenindividuellen Getränkeflaschen.

© Technische Universität München
Konzeptübersicht für RoboFill 4.0. Die Grafik zeigt das Zusammenspiel von Kun-denportal und Auftragssystem mit Ferti-gungsablauf (1) mit der Produktionssteu-erung (2) in der Interaktion mit dem phy-sischen Hardwareaufbau (dargestellt mit möglichen Erweiterungen) (3). Das digita-le Ticket ist in der Abbildung als QR-Code angedeutet.

Flexibilität beim Hersteller – Individualität für den Kunden
Die Proleit AG ist ein Teilnehmer des Forschungsprojektes und Spezialist für Softwarelösungen in der Prozessindustrie. Dort gibt es mögliche Einsatzorte, indem RoboFill 4.0 später in den Produktionsprozessen zum Einsatz kommen könnte. Andreas Brülls, Leiter des Produktmanagements sieht viele Möglichkeiten und großen Mehrwert für die Prozessindustrie in dieser Entwicklung. Aktuell fehle der Branche nur noch ein wenig der Bezug zur Industrie 4.0. Es sei immerhin eine sehr facettenreiche Entwicklung und es müsse erst herausgefunden werden, welche Bausteine sich sinnvoll auf die Prozesse der Brau- und Lebensmittelindustrie übertragen und umsetzen lassen.

Die Aufgabe der Proleit AG ist das im Kundenportal bestellte Produkt über einen Produktionsauftrag und eine Auftragsverwaltung in die Produktion zu übertragen. Ein Anwendungsgebiet von Industrie 4.0, das jetzt schon aktiv im Einsatz ist, ist die starke Vernetzung von verschiedenen Systemen. Bei Proleit gibt es beispielsweise das Manufacturing Execution System (MES). Es nimmt unter anderem Aufträge vom ERP-System entgegen, splittet sie auf oder verknüpft sie miteinander und übergibt sie an sogenannte Package Units. Diese bekommen nur die für sie interessanten Informationen. Nach Bearbeitung des Pakets meldet die Package Unit die Fertigstellung an das MES zurück. Das baut die Informationen der unterschiedlichen Units wieder zu einem Auftrag zusammen und gibt die aufbereiteten Auftragsdaten an das ERP-System zurück.

Derzeit sind die Prozesse vor allem auf Masse ausgelegt. Ziel ist, möglichst schnell möglichst viel zu produzieren. Deswegen wird pro Aggregat nur eine Flüssigkeit auf eine Art Gebinde gezogen. Am Ende sortieren Roboter dann die vom Kunden gewünschten Produkte nach Bestellungen. Einfacher wäre es, wenn direkt nach Bedarf abgefüllt und produziert werden könnte. Bei der aktuellen Funktionsweise würde sich diese Just-in-time Produktion für die Hersteller aber nicht lohnen. Das ist der Ansatz für RoboFill 4.0. Pro Aggregat soll das System vier unterschiedliche Flüssigkeiten abfüllen und diese auch unterschiedlich dosieren können.

„Der Trend geht jetzt immer mehr zur kleineren Chargen, kein Verkäufer möchte mehr große Mengen lagern, vor allem nicht bei Getränken die nicht mehr nachreifen müssen oder können“, so Birle. „Wir sorgen dafür, dass im Kundenportal bestellte Produkte über einen Auftrag in die Produktion gelangen und dort verwaltet und abgearbeitet werden“, erklärt der Produktmanager weiter. Das wird durch ein Softwareagentensystem mithilfe einer virtuellen Präsenz realisiert.

Das Gehirn von RoboFill 4.0
Laut Andreas Turk, Head of Business Segment Automation der Infoteam Software AG, ist Industrie 4.0 in wesentlichen Teilen ein Softwarethema. Bei RoboFill ist das die dezentrale Steuerung mit digitalen Schatten, welche in einem Multiagentensystem agieren. Das System „iAgent“ bildet damit sozusagen das Gehirn des Konzeptes. Durch Netzwerk- und Cloud-Technik kommunizieren alle Systembestandteile miteinander.

brewery inside -ampoule filling system // Brauerei Abfüllanlage
© industrieblick / fotolia.com
Symbolbild der Infoteam Software AG für RoboFill 4.0

„Das Forschungsprojekt zeigt, dass im Bereich der Abfüllanlagen die Vorteile und der Bedarf an Industrie-4.0-Technologien erkannt werden“, sagt Dr. Markus Schleicher, Chief Engineer der und RoboFill Projektleiter der Infoteam Software AG. Wenn die Nachfragen nach individueller Gestaltung und Abfüllung steigen, werden die Unternehmen mitziehen und die Massenproduktion umstellen.

Insbesondere die großen Anbieter industrieller Abfüllanlagen nutzen meist gängige Industriesteuerungen, so Schleicher.Diese Steuerungen verfügen häufig schon über die nötigen Kommunikationsschnittsttellen, wie beispielsweise OPC UA, um sie im Sinne von Industrie 4.0 miteinander zu verknüpfen. Die zentral gesteuerten Altsysteme lassen sich so in Teilsysteme zerlegen und für die dezentrale Steuerung anpassen.

Der Trend zur individuellen Fertigung erfordert eine flexible und dezentral organisierte Software. Das Multiagentensystem „iAgent“ erfüllt diese Anforderungen durch eine Steuerung mittels digitaler Schatten. Es lässt sich unkompliziert in neue Branchen integrieren, die bereits digitale Steuerungen nutzen. Für das System selbst ändern sich nur Einsatzgebiet und Berührungspunkte, der Kern bleibt identisch. Die eigentliche Herausforderung ist, das Zusammenspiel zwischen Hardware und Software nach den branchengegebenen Anforderungen zu perfektionieren.

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