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Digitaler 3D-Feldzwilling: Wenn die Landwirtschaft zur Datenwirtschaft wird

Landwirtschaftliche Flächenbewirtschaftung ist multifaktoriell. Um die Erträge zu steigern, Ressourcen zu schonen, aber auch politische Auflagen zu erfüllen, haben sich auf dem Markt diverse Smart-Farming-Lösungen entwickelt und etabliert. Aus der Vernetzung dieser Insellösungen, könnte durch einen digitalen Feldzwilling die optimale Bewirtschaftung hervorgehen. Da aber ein Standard fehlt, haben viele der Innovationen und Projekte Probleme mit der Interoperabilität der Systeme. 

Ein Gastbeitrag von Gizem Yilmaz und Jonas Schmidt

Verstört von der Anzeige der Kasse kneift er die Augen zusammen. „Bar oder mit Karte?“, sie fängt an zu lächeln, bricht plötzlich ab, bläst ihren Kaugummi auf und lässt ihn knallen. Zum Umkehren ist es zu spät. Mit wachsbleicher Gesichtsfarbe fischt er den letzten Schein aus dem Geldbeutel, blickt ungläubig auf die paar Sachen in der Tüte, dann auf den Bon.

Für einen kostspieligen Einkauf bedarf es schon lange keinen Besuch der glitzernden Königsallee mehr. Schon der Gang zum Supermarkt ist derzeit ein teurer Spaß. Beinahe täglich klettern die Preise für Nahrungsmittel aus dem agrarwirtschaftlichen Sektor die Leiter nach oben. Auch vor dem Ukraine-Konflikt lag der Index bereits auf Rekordniveau. Schuld an den horrenden Preisentwicklungen haben mitunter die steigenden Energiekosten, denn landwirtschaftlicher Anbau ist größtenteils an fossile Energiequellen gekoppelt. Um den Ressourcenverbrauch der Landwirtschaft zu senken, die Erträge zu steigern sowie den politischen Auflagen gerecht zu werden, hat die Digitalisierung in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Daraus haben sich viele Smart-Farming-Technologien entwickelt und bereits etabliert. Die nächste Stufe der Evolution verspricht eine optimale Flächenbewirtschaftung – durch den digitaler Feldzwilling.

Konzeption des digitalen Zwillings

Die Grundidee des digitalen Zwillings ist, die reale Feldwirtschaft auf digitale Weise so abzubilden und aufzubereiten, dass es den Landwirt*innen intuitiv anhand einer Benutzeroberfläche möglich ist, Prozesse zu optimieren und miteinander zu verbinden. Für eine solche Transformation gilt es zunächst alle Informationsquellen, angefangen von der realen Biosphäre, über die Landmaschinen, bis hin zu den Arbeitsprozessen, digital verfügbar zu machen und zusammenzuführen. Auf Basis dessen können softwaregestützte Produkte und kognitive Dienste herangezogen werden, um die Agrarwirtschaft künftig nachhaltiger zu gestalten. Dabei ist der digitale Feldzwilling weit mehr als nur ein digitaler Schatten. Verschiedenartige Daten sollen nämlich nicht nur zusammengeführt und als historisches Abbild, ähnlich einem digitalen Produktgedächtnis, abrufbar sein, sondern auch den umgekehrten Informationsfluss herstellen. So kann ein nachgeschaltetes Farm-Management-Informationssystem (FMIS) aus den live übermittelten Statuswerten einen faktenbasierten Auftrag ableiten, der dann von einem dem Feldzwilling zugeordneten Dienst umgesetzt und dokumentiert wird.

3D Ansicht mit Gebäudenutzung und Spurplanung Foto: ESRI Deutschland GmbH

Datenernte

Ein flüchtiger Blick aus dem Fenster, vor dem sich die Straßenlampen auf dem nassen Asphalt spiegeln und in den Pfützen kleine Wellen vom Wind hingejagt werden, dann ein Blick zum Himmel – es sieht nach Regen aus. Wenn Andreas Dörr, Landwirt und Geschäftsführer der Doerr-Agrar GmbH, aufs Feld zieht, reicht ein solches Wettergespür längst nicht mehr aus. Für eine effiziente Flächenbewirtschaftung in Zeiten von Landwirtschaft 4.0 bedarf es vor allem der richtigen Daten. Und diese Daten erntet Dörr selbst. „Mit dem Mähdrescher ernten wir heutzutage nicht nur Getreide sondern auch Daten“, sagt der Landwirt. Zu den wichtigen Daten zählen Messwerte, wie die Bodenfeuchte des Ackers, Angaben zur Position von Schonflächen, Hangneigungen, aber auch Informationen über die Tankfüllstände der Landmaschinen sowie Dünge- und Pflanzenschutzmitteldosierungen.  Um auf diese Anforderungen der Branche zu reagieren, gibt es mittlerweile eine Unzahl an innovativer Sensorik und Smart-Farming-Lösungen, die Landwirt*innen bei den betrieblichen Prozessen und Dokumentationen unterstützen.

Remote Farming

Wie auf unsichtbaren Gleisen fährt der tonnenschwere Traktor von Dörr selbstlenkend über den Acker. Egal ob Frühjahr oder Herbst, Tag oder Nacht, mit der Präzision eines Uhrenmachers hält die Landmaschine die Position stets präzise ein. Bereits seit 2013 bewirtschaftet Andreas seine Felder nach dem Controlled Traffic Farming (CTF) System. Hierbei plant der Landwirt im Vorfeld durch eine Software die Ausrichtung der einzelnen Fahrspuren sowie den gesamten Arbeitsablauf der Maschinen. Das CTF ermöglicht es ihm so, jede Fahrgasse mit einer Wiederholgenauigkeit von zwei Zentimeter abzufahren, Wendemanöver zu verbessern, Kraftstoff zu sparen, aber auch die Bodenverdichtung für das Pflanzenwachstum und den Erosionsschutz zu optimieren. Um eine solche Planungshilfe besser in seinen Arbeitsalltag zu integrieren und mit anderen Smart-Farming-Lösungen zu synchronisieren, gestaltete der Agronom in Zusammenarbeit mit Michael Mundt, Informatiker der vor einem halben Jahr des Gehöfts, die größtenteils auf Karten des geographischen Informationssystems (GIS) basiert. Die ESRI Deutschland GmbH, einen digitalen Feldzwilling. Dabei handelt es sich um eine 3D-Simulation Anwendung hat unter anderem zum Ziel, das Flächenmanagement, wie die Planung der Schlepper-Fahrgassen, mit Prognosemodellen zur Betriebsausrichtung und Anbauplanung zu verketten. Dörr macht daraus keinen Hehl: „Jeder redet von Big Data. Wir bekommen in der Landwirtschaft eine unheimliche Datenflut. Das Entscheidende ist, diese Daten sinnvoll miteinander zu verarbeiten und ein Ergebnis abzuleiten, das auch in der Praxis einen Mehrwert bringt.“

Feldkarten im Cockpit des Traktors Foto: ESRI Deutschland GmbH

Vernetzungsprobleme

Fahrerassistenzsysteme für Traktoren, 3D-Laserscanner zur Bodenerfassung, diverse Farm-Management-Informationssysteme (FMIS) für die Einhaltung der Umweltauflagen, bis hin zu banalen Wetterapps. Beinahe unendlich scheint die Anzahl der einzelnen Informationssysteme und Insellösungen in der Agrartechnik. Um mit einem digitalen Zwilling aus all diesen Monosystemen den größten Nutzen zu ziehen, sind diese nicht nur einzeln, sondern im gemeinsamen Kontext des Produktionsprozesses zu sehen. Problem dabei ist, dass sich die jeweiligen Inselsysteme über die Jahre zwar parallel, jedoch unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Herausforderung liegt darin, die unterschiedlich gewachsenen Datenstrukturen zusammenzuführen. Beim Feldzwilling der Doerr-Agrar GmbH werden dazu die segmentierten Daten zunächst in einem übergeordneten cloudbasierten Datenraum gesammelt und anschließend softwaretechnisch vernetzt. Der Kern der Software ist geistiges Eigentum (Intellectual Property – IP) der ESRI Deutschland GmbH. Der Informatiker lässt durchsickern: „Um all die Dinge miteinander zu verbinden, braucht es ein intelligentes Datenmodell. Das ist natürlich sehr umfangreich, denn das Modell muss auch alle Daten aufnehmen können, und zwar vernünftig. Das ist ESRI mit dem Geoinformationsmodell (ArcGIS) gelungen.“ Das System schafft es bereits Karten, Szenen, Layer, Analysen und Apps zu vernetzen. Probleme gibt es jedoch hinsichtlich der Maschinenanbindung. Aus diesem Grund hofft Dörr vor allem mehr Kongruenz der Systemhersteller: „Es ist die alte Leier. Es braucht einfach durchgängige Systeme, sodass sich alle Maschinen und Anwendungen intuitiv anbinden lassen.“

Standardabweichungen

Anders als Deutschland ist die Schweiz als Standort für Agrartechnikentwicklung nicht so bekannt. Die Probleme sind aber dieselben und es werden dort zahlreiche Bauteile für die digitale Landwirtschaft hergestellt. Thomas Anken, Gruppenleiter ‘Digitale Produktion’ im Schweizer Kompetenzzentrum für landwirtschaftliche Forschung Agroscope, erklärt: „Das Wetter, der Boden oder der Schädlingsbefall sind multifaktorielle Größen und können oft nur indirekt gemessen werden. Das bietet viel Potential für kleine und große Firmen. Der Markt ist deshalb durch die verschiedensten Anbieter stark gesplittet. Initiativen, wie der Agrirouter, schaffen es zumindest, dass unterschiedliche Systeme, wie Maschine rot und Maschine blau, miteinander kommunizieren.“ Dieses Gerät agiert als virtueller Postbote. Es erlaubt den Datenzugang auf Grundlage von Vereinbarungen der Nutzer überträgt die Daten dann gemäß Ihren Anweisungen. Dies ermöglicht, unter Wahrung der Datensouveränität, die herstellerübergreifende Korrespondenz zwischen der Agrarsoftware und den Landmaschinen. Doch nicht alle Hersteller ziehen mit und räumen der unabhängigen Datenaustauschplattform einen Zugang ein. Nicht zuletzt sind es Großkonzerne wie beispielsweise John Deere und Claas, die zur eigenen Kundenbindung ein Vendor Lock-In generieren. Wie bei der cloudbasierten Datenvernetzung der Doerr-Agrar GmbH fehlt also eine Standardisierung von Herstellerparametern.

Neue Spieler auf dem Feld

Aber viele neue gesetzliche Auflagen und neue Entwicklungen bei Maschinen und IT lassen agrartechnische Systeme immer komplexer werden. Um einen digitalen Feldzwilling wirklich nutzen zu können, braucht es nicht nur Innovationen bei Sensorik und Datenvernetzung wie das ArcGIS oder der Agrirouter. Es braucht auch die leistungsfähige nachgeschalteten kognitiven Dienste und cyberphysische Systeme. ntelligenz der kognitiven Dienste und die Vernetzung sind auch die Basis, um die bisher eingesetzten großen und durch Personal gesteuerten Maschinen ersetzen zu können. Modularisierung der Großmaschinen durch kleine, vollautomatisierte Module, das ist das Ziel. Für Ruckelshausen ist ein Traktor an sich erst einmal eine “Null-Zweck-Maschinen”. “Erst das Anbaugerät macht ihn zu einem wertvollen Werkzeug. Gelingt es mittels Robotik autonome Anbaugeräte zu generieren, könnten diese den mächtigen Schlepper durchaus ablösen.“ Der tatsächliche Praxisnutzen solcher visionären Einheiten ist allerdings, aufgrund der bislang noch gering ausgeprägten Prozessintegration, schwer zu eruieren. Für Ruckelshausen liegt eine Schlüsselkomponente zur Entwicklung unter anderem in der Simulationstechnik mit digitalen Zwillingen. Hieraus gewonnene Resultate können zwar den Feldversuch nicht vollständig ersetzen, jedoch als Richtwerte für die Realisierbarkeit dienen. Die Effektivität der Simulation geht allerdings wieder auf die Qualität der Eingangsdaten, das erste Glied in der Prozesskette, zurück. Diesen Prozesszusammenhang bestätigt auch der Agronom Thomas Anken: „Zwillinge sind natürlich nur so nützlich, wie gut ihre Modelle sind. Wichtig ist die Landwirtschaft datenbasiert zu machen, denn die Modellierung fängt mit der Sensorik an.“

Kognitive Dienste

m Ende der Prozesskette stehen intelligente Dienste, welche Landwirt*innen passgenaue Unterstützung bieten und zu einem effizienteren Arbeiten beitragen sollen. Ein Beispiel ist Cognitive Agriculture, ein sogenanntes Leitprojekt des Fraunhofer Institut IESE in Kaiserslautern. In diesem Projekt wurde mit einer Abgreifprognose eine Anwendung entwickelt, die vorausschauende Einsatzplanung von Erntekampagnen ermöglicht. Aus mehreren Datenquellen wird ein Wissensschatz kreiert, um kontextbezogene und nachhaltige Entscheidungen im Umgang mit der Feldarbeit zu treffen. Für die Umsetzung solcher Aufgaben ist primär der Entwurf des digitalen Ökosystems ausschlaggebend. Die Abläufe müssen digital beschrieben sein, denn nur so sind sie automatisierbar. Dies betrifft die Automatisierung von Maschinen, aber auch der Datenzuweisung und deren Infrastruktur. Ralf Kalmar, Leiter Business Development, bewegt sich beim Fraunhofer-Institut IESE bereits seit Jahren auf diesem Forschungsfeld. Er spricht mit Blick auf das Zusammenwirken der Daten, Auswertungen und Maßnahmen von einem Ökosystem. „Ein Ökosystem beschreibt am Ende wie alles zusammen funktioniert. Dies gilt auch für das digitale Ökosystem. Es ist weitaus mehr als nur ein Datenraum“, bescheinigt er die Wirkzusammenhänge. Als Basis für lebendige digitale Ökosysteme, entwickelte die Fraunhofer- Gesellschaft im Rahmen des Leuchtturmprojekts COGNAC einen Datenraum: den Agricultural Data Space (ADS). Die Plattform soll die Heterogenität der zahlreichen Monosysteme überwinden und einzelne Daten-Clouds auf internationaler Ebene miteinander verbinden. Doch auch hier gibt es Probleme mit der Interoperabilität. „Datenräume sind im Prinzip ein Bild dafür, dass ich Daten zugänglich habe. Um die semantische Interoperabilität zu gewähren, fehlen gemeinsame Standards. Um Daten zu interpretieren, reicht ein Datenformat allein einfach nicht aus. Dafür sind noch eine Reihe von Kontextdaten notwendig“, beschreibt Kalmar den aktuellen Forschungsstand, „in weiteren Forschungsprojekten, wie aktuell im EU-Projekt Agri Data Space, wo natürlich auch sehr viele politische und andere Strömungen zu beachten sind, wird weiter an diesen Themen gearbeitet.“

Digitales Ökosystem von morgen

Zur Ableitung des bestmöglichen digitalen Zwillings aus der realen Feldwirtschaft, gilt es die Informationen aller Inselsysteme und selektiven Clouds zusammenzutragen und im gemeinsamen Kontext auszuwerten. Die Voraussetzung dafür ist, dass sich die unterschiedlichen Datenstrukturen auch vernetzen lassen. Das Problem: Der Agrartechnikmarkt ist heterogen, unterschiedliche Systemlandschaften von unterschiedlichen Anbietern erschweren die Interoperabilität. Viele technische Innovationen, wie das ArcGIS System oder der Agrirouter, aber auch Pilotprojekte wie der ADS verursachen, aufgrund einer bislang fehlenden, herstellerübergreifenden Standardisierung, dementsprechende Schwierigkeiten. Ein Standard scheint für den zukünftigen Fortschritt unumgänglich, auch wenn seine Umsetzung anhand der Komplexität landwirtschaftlicher Prozesse äußerst aufwendig und schwierig wird. Aber nur so ließe sich aus einer komplexen Datensammlung auch ein vollwertiges digitales Ökosystem mit diversen Teilnehmern beschreiben, das wiederum den Landwirt*innen und der Politik als Entscheidungshilfe dienen kann. Darauf aufbauende kognitive Dienste, wie Prognosemodelle, könnten beispielsweise Landwirtschaftsgremien bei ihren zukünftigen Beschlüssen zu Dünger- und Pflanzenschutzmittelverordnungen oder Flächennutzungsauflagen, mittels belegbarer Datenauswertung unterstützen. Auch wenn der digitale Feldzwilling derzeit noch in den Kinderschuhen steckt, um die steigenden Anforderungen zu bedienen, könnte diese wertschöpfende Technik für viele Betriebe schon bald ein Schritt nach vorne sein.

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