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eHealth: Digitale Zwillinge im Gesundheitswesen

Digitale Zwillinge haben ihren Weg von der Industrie ins Gesundheitswesen gefunden. Der großflächige Einsatz dieser Technologie hat das Potential, Patient*innen in ihrer Behandlung zu helfen und Ärzte zu entlasten. Obwohl die Forschung am Anfang steht und noch einige Hürden überwinden muss, zeigen einige Projekte bereits vielversprechende Resultate in der Anwendung.

Ein Gastbeitrag von Peer Graulich und Antonia Siepker (redaktionell bearbeitet)

Falls Sie den Begriff „digitaler Zwilling“ noch nie gehört haben, geht es Ihnen wie einem Großteil der Deutschen. Laut einer Bevölkerungsbefragung der Wirtschaftsprüfgesellschaft PricewaterhouseCoopers, kurz PwC, aus dem Jahr 2018, kennt nur etwa jede*r vierte Deutsche den Ausdruck. Bei einem digitalen Zwilling handelt es sich um eine virtuelle Abbildung eines Objekts. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Fertigungsindustrie. Mittlerweile wird diese Technologie aber auch im medizinischen Kontext erforscht und beschreibt die Abbildung von Patient*innendaten im Hinblick auf ein Gesundheitsproblem.

Digitale Zwillinge in der Therapie

Die Anwendungsmöglichkeiten des digitalen Zwillings sind groß. Er soll Ärzte unter anderem bei Diabetes-, Herz- und auch Krebsbehandlungen unterstützen können. Laut Michael Burkhart, dem Leiter des Bereichs Gesundheitswirtschaft bei PwC, steckt die Technologie zwar noch in den Kinderschuhen, die Idee habe aber das Potenzial, unser Gesundheitswesen grundlegend zu verändern. Zusammengefasst ist ein digitaler Zwilling in der Medizin eine Art “Avatar” des Körpers oder der Organe eines Patienten. Dieser wird durch zusammengeführte Daten virtuell kreiert und soll durch Echtzeitsimulationen die personalisierte Medizin verbessern und individualisierte Prognosen möglich machen.

Zusammenführung der Daten-Modelle für personalisierte Medizin bei Krebs

Die Voraussetzungen für die digitalen Abbilder sind jederzeit abrufbare und gemeinsam gesammelte Daten, was ein Problem in Deutschland darstellt. So erklärt Dr. Stefan Franke, Koordinator des Projekts Modelle für personalisierte Medizin der Universität Leipzig, kurz MPM, dass in der Tumortherapie und besonders in Deutschland eine große Fragmentierung der relevanten Daten vorliegt. “Also liegen sie in vielen verschiedenen IT-Systemen und Formaten und zum Teil auch nur wenig strukturiert vor. Viele der neuen Anwendungen, bei denen man versucht, aus großen Datenmengen Modelle abzuleiten, benötigen die Daten zusammengefügt und semantisch und syntaktisch interoperabel, also sozusagen zugreifbar“, so Franke.

Die Forscher*innen des Projekts MPM haben es sich laut ihrer Website zur Aufgabe gemacht, eine wissenschaftliche Grundlage für personalisierte Behandlung zu entwickeln, die in unterschiedlichen klinischen Situationen eingesetzt werden kann. Das Projekt endete zum ersten Dezember und baute auf vorherigen Projekten des iccas, dem INNOVATION CENTER COMPUTER ASSISTED SURGERY der Universität Leipzig auf. Sowohl ein Projekt über Digitale Patientenmodelle als auch ein Projekt aus dem Bereich Modellbasierte Automation und Integration, bei dem es um die Vernetzung des Operationssaals ging, wurden in dem Projekt MPM miteinander verknüpft.

eHealth: Digitale Datensammlung und -auswertung von Patient*innen im Gesundheitswesen (Bild: PublicDomainPictures via Pixabay)
eHealth: Digitale Datensammlung und -auswertung von Patient*innen im Gesundheitswesen (Bild: PublicDomainPictures via Pixabay)

Das sei die Grundlage für den Einsatz von digitalen Zwillingen, so Franke. „Die Idee vom digitalen Zwilling ist ja im Grunde, dass eine Abstraktion um alle Daten, die es zu dem Fall oder Patienten gibt, kreiert wird. Dadurch wird eine Anfrageschnittstelle geschaffen. Alle Anwendungen, die Daten von Patient*innen benötigen können dort anfragen; ohne wissen zu müssen, in welchem System welche Informationen abliegen oder wie sie miteinander zusammenhängen.“

Wie können digitale Zwillinge die Medizin unterstützen?

Durch diese Datenansammlung können die Forschenden mithilfe des digitalen Zwillings komplexe Fragen über Zusammenhänge von Medikation und Entzündungen anhand von Blutbildern beantworten. Die Möglichkeiten einer Krebstherapie, z. B. Chemo- und Immuntherapien oder operative Eingriffe, können so gezielter angewendet werden. Auch Patient*innen kann dadurch die häufig schwierige Entscheidung für oder gegen eine Therapieform erleichtert werden. „Gerade die Entscheidungsfindung bei komplexen Krebsfällen kann sehr kompliziert sein, weil viele Faktoren eine Rolle spielen und es viele Therapieoptionen gibt“, so Dr. Franke. Nicht nur die Entscheidung, welche Therapie für einen Patienten die sinnvollste ist, sondern auch die Durchführung durch den digitalen Zwilling „effizienter und sicherer, weil die Daten über den digitalen Zwilling an jeder Stelle standardisiert zur Verfügung stehen. Jedes System, das an der Behandlung des Patienten beteiligt ist, kann auf die gleichen Daten zugreifen. So liegt immer das gleiche Bild des Patienten vor.“ Dass sich die Forschung dabei auf Krebspatient*innen fokussiert, liegt dabei besonders an der Komplexität der Fälle.

So sollen auch Therapien für andere Krankheitsfälle vom Einsatz des digitalen Zwillings profitieren, indem sie sich an der Technologie und Forschung für die Tumortherapie orientieren können. “Wir hoffen also, dass, wenn wir diesen Fall lösen können, es auch bei anderen möglich ist. Wenn man den Patienten bei einer Tumorentfernung unterstützen kann, kann dieselbe Technologie auch bei einem Bandscheibenvorfall genutzt werden. Wir wollen sicherstellen, dass alle Patientendaten zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind”, so Dr. Franke.

Individuelle Implantate durch digitale Zwillinge

Das Projekt des Münchner Start-ups Orthopädie und Traumatologie – Medizintechnik (OTM) ist ein Beispiel in der der digitale Zwilling bereits Anwendung findet. Es konzentriert sich auf die Erstellung von individuellen Implantaten mithilfe von digitalen Zwillingen. „Der Patient oder die Patientin wird geröntgt oder es wird eine CT-Aufnahme erstellt. Danach ist es möglich, aus dem zweidimensionalen Röntgenbild ein dreidimensionales Modell von dem Patienten zu erstellen. Dann sieht man den Knochen am Computer und weiß genau wie er aussieht und kann an den digitalen Knochen das künstliche Gelenk optimal anpassen“, erklärt OTM-Mitarbeiter Phillip Kutschera.

Zuerst wird mithilfe einer Software ein Volumenmodell eines Knochens erstellt. Im nächsten Schritt dient das Modell zur exakten Vermessung des Knochens. Somit kann mit einer weiteren Software das eigentlich Implantat konstruiert werden. Das findet alles digital statt, bis die Daten an einen 3D-Drucker weitergeleitet werden und daraus die individuelle Prothese aus Metall gefertigt werden kann. Für so eine patientenspezifische Operation werden zusätzlich noch Schablonen angefertigt, um das präzise Einsetzen des Implantats zu ermöglichen. Diese Methode gewährleistet eine besondere Passform, die dazu beiträgt, dass eine Gelenkprothese deutlich länger hält. „Dadurch ist der Weg zur Produktion eines solchen Implantats sehr teuer. Außerdem ist eine individuelle Fertigung für eine einzelne Prothese teurer als ein herkömmliches Implantat von der Stange“, sagt Kutschera. Dadurch ist eine flächendeckende Anwendung der Technologie in Deutschland aktuell noch nicht möglich, in den USA ist sie jedoch bereits verbreitet.

Die Hauptsorge: Datenschutz!

Obwohl der Großteil der Bevölkerung noch keinen Bezug zu digitalen Zwillingen hat, sind die Deutschen, nachdem ihnen das Prinzip erklärt wurde, der Technologie gegenüber aufgeschlossen. Laut der PwC Studie sind über 80 Prozent der Befragten prinzipiell bereit, ein Testmodell von sich selbst anfertigen zu lassen. Besonders die Möglichkeit, dadurch die Behandlung chronisch oder schwer erkrankten Menschen zu verbessern und die Ärzte mit der Datensammlung zu unterstützen werden als positiv eingeschätzt.

Jedoch muss für knapp 90 Prozent der Befragten erst die Datensicherheit geklärt werden, welche damit die größte Sorge der Befragten darstellt. Diese Sorge nimmt Dr. Franke, von der Universität Leipzig, ernst. „In der Medizin ist Datenschutz essenziell. Wann immer mit Daten gearbeitet wird, die so sensibel wie Gesundheitsdaten sind, müssen die notwendigen Maßnahmen für Datenschutz und Datensicherheit ergriffen werden.“ Diese Einschränkung sei laut Dr. Franke aber im Klinikalltag bekannt und sei für die damit zusammenhängenden Informationssysteme gelöst. Dadurch gäbe es bereits die Erfahrung und Vorkehrungen, um mit solchen sensiblen Daten umzugehen. Digitale Zwillinge einzusetzen sei im Hinblick auf Datenschutz kein Hindernis. Er hält die Datensicherheit sogar für „eine der wichtigsten Säulen für die erfolgreiche Umsetzung in der medizinischen Praxis“.

Das Vertrauen in die Technologie und dessen datenschutz-rechtlichen Maßnahmen hält Dr. Franke außerdem für essenziell, um die zukunftsorientierte Veränderung des Gesundheitswesen einzuleiten. Problematischer und aufwändiger war der Einsatz der Daten während der Forschung des Projekts MPM. Jeder Patient, dessen Daten ausgewertet wurden, musste einer konkreten Studie zustimmen. „Wir müssen klar formulieren, was wir mit den Daten machen wollen, welche Hypothesen es gibt, welche Daten erfasst werden und wie die Daten gespeichert werden. Was schwierig ist, wenn man vorher manchmal gar nicht weiß, was man hinterher an den Daten untersuchen will“, so Franke. Und das Zusammenführen übergreifender Datensätze aus mehreren Kliniken ist organisatorisch besonders aufwändig.

Grenzen und Zukunft der digitalen Zwillinge

Der Trend hin zum digitalen Zwilling in der Medizin ist aktuell stark ausgeprägt wird, laut Franke, auch anhalten. Eine Schätzung, wie lange es noch dauert, bis digitale Zwillinge großflächig eingesetzt werden, will Franke aber nicht abgeben. Das liegt an den zeitaufwändigen Zulassungsprozessen, die hohe Anforderungen an Datenschutz und Patientensicherheit der Digitalen Zwillinge stellen. Auch die finanzielle Investition in neue Technologien beansprucht viel Zeit. Bis sie flächendeckend in Kliniken zum Einsatz kommen, wird es wohl noch ein Jahrzehnt dauern. Die Patienten werden die Umrüstung unter Umständen gar nicht wahrnehmen. „Das ist eine Backend-Technologie, die Patienten oder Ärzte nur selten zu Gesicht bekommen. Sie sorgt im Hintergrund dafür, dass die Anwendungen, Applikationen und Medizingeräte besser auf den jeweiligen Einsatz abgestimmt sind und besser funktionieren“, erklärt Dr. Franke.

Dem Markterfolg der patientenindividuellen Implantate stehen die hohen Kosten im Wege. Die Prozesse müssten weiter automatisiert und die Entwicklung mit schnelleren 3D-Druckern unterstützt werden. Damit könnte der Produktionsprozess optimiert und die Kosten gesenkt werden, damit sich diese Implantate in vielen Bereichen etablieren können.

Dr. Franke sieht aber auch klare Grenzen im Einsatz der Technologie: „Behandlungsentscheidungen werden nicht von einer Maschine getroffen – sei sie noch so intelligent – sondern immer von Ärztinnen und Ärzten. Digitale Zwillinge und neue Applikationen können den menschlichen Faktor nicht ersetzen und sollten stets Werkzeuge bleiben, die von den Nutzer*innen nachvollzogen und verstanden werden können. Keine Technologie wird medizinisches Personal je ersetzen. Aber sie kann zur Unterstützung dienen, damit Behandlungen sicherer, besser und personalisierter werden.“

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