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Lebensmittelverschwendung: Eine Problematik, die alle betrifft

Weltweit landen jährlich mehrere 100 Millionen Tonnen Nahrungsmittel im Müll. Gründe hierfür sind eine Überproduktion der Erzeuger, eine falsche Lagerung sowie hohe Ansprüche von Verbrauchern an Form und Aussehen der Produkte. Mithilfe von Digitalen Zwillingen ist es im Zeitalter der Digitalisierung möglich, der Verschwendung von Nahrungsmitteln in der gesamten Lieferkette entgegenzuwirken. Auch Verbraucher sind dazu angehalten, ihre Kaufgewohnheiten zu überdenken.

Ein Gastbeitrag von Kim Heuck und Sebastian Paul

Lebensmittelverschwendung ist ein globales Problem

Im vergangenen Jahr wurden laut der Datenerhebung der United Nations und des Environment Programs im UNEP Food Waste Index 2021 weltweit 931 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet. Das entspricht 17 Prozent noch verwertbarer Nahrungsmittel. Der Begriff Verschwendung bezieht sich auf die Sektoren Produktion, Industrie, Handel sowie Gastronomie und private Haushalte – also auf fertige Lebensmittel. Darin sind die sogenannten Lebensmittelverluste nicht enthalten. Diese entstehen nach Angaben des Europäischen Rats sowie des Rats der Europäischen Union vor allem bei der Erzeugung und während des Vertriebs. Jedoch werden pflanzliche Produkte erst nach der Ernte und tierische Erzeugnisse erst nach der Schlachtung als Lebensmittel definiert. Gemäß der Verbraucherzentrale Bayern werden die Verluste auf den Feldern, in den Ställen und auf den Weiden nicht statistisch als Lebensmittelverschwendung erfasst. Dennoch findet auch hier eine Verschwendung von Ressourcen statt, die folgenschwere Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt hat. Obst und Gemüse macht den Ergebnissen der Food and Agricultur Organisations of the United Nations, kurz FAO, zufolge 25 Prozent der Verluste durch Ernte- und Sortierungsausfälle in der Europäischen Union aus. Dies lässt sich besonders auf die hohen Qualitätsanforderungen und Standardisierung an das Aussehen und die Form der Lebensmittel seitens der Hersteller, des Handels sowie der EU zurückführen. Einheitliche Größen sowie Krümmungsgrade verschiedenster Obst- und Gemüsesorten sind Züchtungsergebnisse. Diese sollen für eine leichtere, automatisierte Verarbeitung der Ernte sorgen. Die Standards der Verbraucher orientieren sich an Qualitätsanforderungen wie Farbe, Konsistenz und Form und tragen nach Einschätzungen der bayerischen Verbraucherzentrale enorm zur Lebensmittelverschwendung bei.

Technologie als Lösungsansatz

Digitale Zwillinge bieten Lösungen für eine Bandbreite von Problematiken der heutigen Gesellschaft. Auch zur Eindämmung der Lebensmittelverschwendung können sie eingesetzt werden. Ein Digitaler Zwilling ist laut der Firma International Business Machines Corporation, kurz IBM, ein virtuelles Abbild eines physischen Objekts oder Systems. Mithilfe von Sensoren werden Echtzeitdaten gesammelt, welche nach deren Auswertung wiederum auf die digitale Kopie übertragen werden. Nach diesem Schritt ist es möglich, Simulationen an den Digitalen Zwillingen durchzuführen, um vorhandene Probleme zu analysieren. Die Erkenntnisse aus den gewonnenen Daten können daraufhin wieder auf das ursprüngliche physische Objekt oder System angewandt werden, um dieses zu optimieren. Digitale Zwillinge können im Vergleich zu Standardsimulationen beliebig viele Prozesse untersuchen und damit die analysierten Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Dadurch ist eine Verbesserung von Produkten sowie Prozessen in einem größeren Umfang möglich.

Digitale Zwillinge können Abhilfe bei der Verschwendung von Obst und Gemüse schaffen

Ein großer Anteil an Lebensmittelverlust und -verschwendung findet in der Lieferkette für Frischwaren vom Landwirt bis zum Verbraucher statt. Weltweit landen laut einer Studie des World Wide Funds For Nature, kurz WWF, jährlich knapp 450 Millionen Tonnen Obst und Gemüse in der Tonne. Ausschlaggebend für diese Verschwendung sind unzureichende und falsche Lagerbedingungen sowie natürliche Klimafaktoren in den verschiedenen Gliedern der Lieferkette. Daniel Onwude, Ingenieur für landwirtschaftliche Verfahrenstechnik, ist Teil der Forschungsgruppe Simulating Biological Systems, kurz SimBioSys, an der Schweizer Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa. Zusammen mit Forschern der südafrikanischen Stellenbosch University entwickelten sie die App vom Acker auf die Gabel, auch bekannt als FruiTeD. Die App hat das Ziel, Erkenntnisse, welche Lagerdaten von Zitrusfrüchten auf dem Transportweg von Südafrika bis Europa liefern, für Nutzer begreiflich zu machen. Zudem könne laut Onwude damit die Lieferkette optimiert und Einbußen in der Qualität der Fracht wie beispielsweise Kälteschäden oder Fäulnis verhindert werden.

Die physikalischen Modelle der Digitalen Zwillinge werden mit den gewonnenen Daten von umweltbezogenen Echtzeit-Sensoren gefüttert. Diese messen kontinuierlich die Temperatur und Luftfeuchtigkeit in den Lagercontainern. Dadurch könne laut Onwude exakt zurückverfolgt werden, an welcher Stelle der Lieferkette Qualitätseinbußen entstehen. Die verantwortlichen Akteure, wie beispielsweise Logistikunternehmen sind dadurch in der Lage, ihre Lagerbedingungen entsprechend nachzujustieren. „Für jede unterschiedliche Zitrusfrucht benötigen wir ein eigenes Modell des Digitalen Zwillings, da jede Frucht eine unterschiedliche Eigenschaft, eine andere Form sowie Zusammensetzung besitzt“, sagt der Agrarwissenschaftler. Die Simulationen der Digitalen Zwillinge führte das Forschungsteam mit der multiphysikalischen Simulationssoftware COMSOL durch. Der Erfolg von FruiTeD ermöglichte es dem Team, ihr Sortiment an Digitalen Zwillingen für weitere Obst- und Gemüsesorten stetig auszubauen. Die gewonnenen Erkenntnisse treiben die Forschung in dem Sektor der Nachernte-Technologie voran und schaffen somit der Lebensmittelverschwendung Abhilfe.

Graphische Darstellung der Auswirkungen des Transports auf das Verhalten von Zitrusfrüchten.
Die Daten von FruiTeD geben Einblicke in das Verhalten von Zitrusfrüchten auf ihrem Transportweg. Foto: Empa

Bedarf an nationalen Lösungen

Lösungsansätze für die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung in Deutschland finden sich derzeit in der Nationalen Strategie des Bundesinnenministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, kurz BMEL. Diese wurde vom Bundeskabinett im Februar 2019 beschlossen und wird derzeit weiterentwickelt. Ziel dieser Strategie ist die deutschlandweite Halbierung der Lebensmittelabfälle in allen Sektoren bis zum Jahr 2030. Dafür wurde 2015 erstmals eine Bilanzierung der Lebensmittelverschwendung auf nationaler Ebene durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Datenerhebung wurden in der Baseline-Studie Thünen Report 71 veröffentlicht. Seitdem erfolgt jährlich eine Berichterstattung sowie vierjährlich eine gründliche Erhebung neuer Daten. Zur Unterstützung der Nationalen Strategie wurden zahlreiche Projekte ins Leben gerufen. ‘Zu gut für die Tonne!’ ist eines von ihnen. Verbraucher erhalten auf der dazugehörigen Website zahlreiche Informationen über die Problematiken der Lebensmittelverschwendung. Diese sollen sie für das komplexe Thema sensibilisieren. Konsumenten können dort ebenso Maßnahmen und Fortschritte der Nationalen Strategie verfolgen.

Handlungsbedarf bei den Verbrauchern

Private Haushalte verursachen jährlich laut dem Food Waste Index 2021 weltweit knapp 570 Millionen Tonnen an Lebensmittelabfällen. Das entspricht weit mehr als der Hälfte aller verschwendeten Nahrungsmittel. Auch in Deutschland sind die privaten Haushalte mit rund 75 Kilogramm pro Person und Jahr die Hauptverursacher der Verschwendung von Lebensmitteln. Dies ließ sich laut Daniela Krehl, Ernährungswissenschaftlerin der Verbraucherzentrale Bayern, jedoch lange Zeit nicht belegen, da die Daten dazu fehlten. Krehl sagt: „Vor allem der Haushalt war wie eine Blackbox. Um herauszufinden, wie viele Nahrungsmittel pro Haushalt im Durchschnitt weggeschmissen werden, muss ganz explizit Protokoll geführt werden.“ Dass die Zahl der Lebensmittelverschwendung in privaten Haushalten so hoch ist, liegt besonders an einer fehlenden Planung, der falschen Lagerung sowie dem Nicht-Verarbeiten von Resten. Zusätzlich dazu sind rund 70 Prozent der Einkäufe in deutschen Haushalten Impulskäufe. Diese ließen sich laut Krehl dadurch verhindern, indem Verbraucher sich bewusst darüber werden, welche Nahrungsmittel sie bereits zu Hause vorrätig haben. Auch „das, was Großmutter noch wusste, ist in Vergessenheit geraten“, erklärt Krehl. Besonders die Resteverwertung, die für frühere Generationen unabdingbar war, fiele vielen Verbrauchern schwer. Das Hauptproblem der Lebensmittelverschwendung sieht die Ernährungswissenschaftlerin jedoch in der Einstellung der Menschen den Lebensmitteln gegenüber. Die niedrigen Lebensmittelpreise vor der Inflation und der Energiekrise erleichterten es vielen Verbrauchern, das ein oder andere Lebensmittel im Hausmüll zu entsorgen – ohne groß darüber nachzudenken. Dieses Verhalten hat sich durch die aktuellen Entwicklungen geändert. „Die Leute merken die Auswirkungen der Krise in ihrem eigenen Geldbeutel und passen ihre Kaufgewohnheiten an die neuen Gegebenheiten an“, sagt Krehl. Die Energiekrise birgt die Chance eines Umdenkens der Verbraucher bei Kaufentscheidungen.

Unterstützung der Verbraucher durch Institutionen und Apps

Damit die Lagerung von Lebensmitteln in privaten Haushalten für die Verbraucher einfacher wird, rät die Ernährungswissenschaftlerin dazu, sich über die optimalen Bedingungen zur Aufbewahrung der jeweiligen Nahrungsmittel im Kühl- oder Vorratsschrank zu informieren. „Beispielsweise gehören Äpfel nicht in den Obstkorb, weil sie anderes Obst schneller reifen lassen“, erklärt Krehl. Empfehlungen zu den optimalen Lagerbedingungen von Obst und Gemüse in privaten Haushalten bietet beispielsweise die My Fruit Twin App. Kanaha Shoji, Umweltingenieurin bei Empa, hat mit ihren Kollegen die My Fruit Twin App entwickelt, sodass Verbraucher ohne jegliches technisches Vorwissen interaktiv die ideale Aufbewahrung für ihren Einkauf herausfinden können. Damit Verbraucher die App effektiv nutzen können, sollten laut Shoji, Sensoren, die sowohl die Temperatur als auch die Luftfeuchtigkeit messen können, am entsprechenden Lagerort in den eigenen vier Wänden angebracht werden. Wenn diese nicht ohnehin schon im Kühlschrank oder einem Thermometer zum Erfassen der Raumtemperatur im Haushalt vorhanden seien. Die Ergebnisse der Forscher zu den optimalen Lagerbedingungen der unterschiedlichsten Obst- und Gemüsesorten, welche in der App visuell aufbereitet sind, helfen Verbrauchern, sich mit den erforderlichen Lagerbedingungen ihres Einkaufs vertraut zu machen. Auch Einzelhändler profitieren von dem Resultat der Daten. Diese Daten können die Art und Weise verändern, wie Händler ihre Produkte bis zum Verkauf bestmöglich lagern. „Supermärkte und andere Glieder der Lieferkette sollten die Aufbewahrung ihrer Produkte verbessern, aber die optimale Lagerung zu Hause ist genauso wichtig“, sagt Shoji. Mit diesen Mitteln kann die Lebensmittelverschwendung bereits drastisch reduzieren werden.

Tomaten und ein Handy für eine symbolische Darstellung.
Damit Tomaten möglichst lange frisch bleiben, benötigen sie eine Temperatur von neun Grad Celsius und eine Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent. Foto: Empa

Forschung, Innovation und Sensibilisierung im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung dringend notwendig

Die Verschwendung von Nahrungsmitteln ist durch die zahlreichen Akteure ein komplexes Konstrukt. Daten gibt es für die Problematik genügend, jedoch mangelt es an der Umsetzung der wenigen bereits bestehenden Konzepte sowie an der Entwicklung neuer. Digitale Zwillinge stellen einen Teil der Lösung dar. Es bedarf allerdings weiterer Forschung, Innovation und Sensibilisierung, um die Problematik weltweit in den Griff zu bekommen. Konsens besteht im Wesentlichen darin, dass zum Schutze des Planeten gehandelt werden muss und jeder seinen Beitrag dazu leisten kann. Hierzu ist laut Krehl ein Umdenken in der Gesellschaft dringend notwendig. „Der Respekt vor Lebensmitteln aller Art ist ein wichtiger Faktor im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung, denn Nahrungsmittel wurden zum Verzehr und nicht für die Tonne produziert“, erklärt Daniela Krehl.

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