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Die Gesellschaft wird inaktiver

Martina Kanning forscht an der Universität Konstanz im Bereich Social and Health Science. Die Professorin beschäftigt sich vor allem mit der Frage, welche Auswirkungen Bewegung im Alltag auf die Psyche hat und welche Faktoren dafür sorgen, dass Menschen ihren Alltag aktiver gestalten. Sie sieht ein Problem in der hohen Inaktivität der Gesellschaft. Sie empfiehlt, auf ausreichend abwechslungsreiche Bewegungen im Alltag zu achten, da dies nicht nur physische, sondern auch psychische Vorteile bringt.

Ein Gastbeitrag von Philipp Ebnet

Wie viel Bewegung ist ideal für den Alltag?

Wichtig ist eine aktive Lebensgestaltung. Das Ziel sollte mindestens 30 Minuten Bewegung am Tag sein und mindestens zehn Minuten Bewegung am Stück. Außerdem ist Abwechslung wichtig. Rückenschmerzen etwa entstehen meistens durch langes Sitzen. Den ganzen Tag zu stehen ist aber genauso ungesund, wie den ganzen Tag zu sitzen. Außerdem haben Studien gezeigt, dass wir müde und matt werden, wenn wir lange in einer Position bleiben. Dagegen helfen selbst kleinste Bewegungspausen. Um das festzustellen, fragen wir in einem unserer Projekte extra im Alltag, wie die Menschen sich fühlen. Wir wollen die Leute genau zu dem Zeitpunkt erreichen, der uns interessiert. Ansonsten kann es zu Verzerrungseffekten kommen. Wenn wir abends angeben sollen, wie wir uns den Tag über gefühlt haben und der Abend war total schön, neigen wir manchmal dazu, zu vergessen, wie anstrengend und ermüdend beispielsweise das Meeting heute Mittag war. Deswegen arbeiten wir mit Bewegungssensoren und wenn wir bemerken, dass jemand seit längerer Zeit sitzt, können wir genau in dem Moment einen Fragebogen auf das Smartphone schicken, in dem wir abfragen, wie sich die Person zu diesem Zeitpunkt fühlt. Dadurch erhalten wir genaue Ergebnisse, wie sich Bewegung auf unser Empfinden auswirkt. Dabei haben wir festgestellt, dass selbst minimale Bewegungseinheiten von nur ein oder zwei Minuten dazu führen, dass Menschen sich angeregter und energiegeladener fühlen als ganz ohne Bewegung. Und diese Erkenntnis hilft natürlich, um im Alltag Verhaltensempfehlungen aufzustellen.

Welche Empfehlungen sind das?

Das fängt bereits in der Arbeit an, hängt aber natürlich von der jeweiligen Tätigkeit ab. Grundsätzlich lohnt es sich immer, Bewegungsmöglichkeiten im Arbeitsalltag zu identifizieren und umzusetzen. Wenn ich bei meiner Arbeit viel sitze, kann ich mir zum Beispiel vornehmen, statt E-Mails zu schreiben oder zum Telefonhörer zu greifen, meine Kollegen persönlich im Büro aufzusuchen, um Angelegenheiten zu besprechen. Außerdem hilft es, wenn ich ab und zu einen kurzen Spaziergang mache, dann erreiche ich auch die zehn Minuten Bewegung am Stück. So ein Spaziergang eignet sich etwa gut als Ausgleich nach einem langen Meeting. Alleine solche kleinen Änderungen führen auf längere Sicht zu einem aktiveren Lebensstil.

Wie motivieren sich Menschen dazu, diese Empfehlungen umzusetzen und insgesamt aktiver zu werden?

Die Forschung unterscheidet hier zwei Phasen: die Motivationsphase, also den Willen nach mehr Bewegung zu aktivieren, ist der erste Schritt. In der zweiten Phase geht es darum, dass die Menschen dann auch am Ball bleiben. Für den ersten Schritt ist es wichtig, dass wir unsere Wünsche erkennen und uns konkrete Pläne und Ziele setzen, um diese Wünsche umzusetzen. Eine gute Leitlinie ist die Überlegung, was will ich wann, wo, wie und mit wem machen? Nehmen wir an, ich erkenne den Wunsch, mich im Alltag mehr zu bewegen. Wenn ich mir dann vornehme, dass ich morgen nach der Arbeit mit meiner Freundin spazieren gehe, ist das ein konkreter Plan, den ich viel wahrscheinlicher einhalte, als den Plan, mich ab nächster Woche mehr zu bewegen. Es hilft auch, wenn wir uns konkrete Situationen vor Augen führen und überlegen, was wir ändern wollen. Ich kann mir beispielsweise als Ziel setzen, immer, wenn ein Kollege in mein Büro kommt, aufzustehen und das Gespräch im Stehen zu führen oder eben, wie gesagt, persönlich zu den Kollegen zu gehen. Alleine dadurch sorge ich für mehr Bewegung und Abwechslung in meinem Alltag.

Wer kann unterstützen, diese Motivation zu finden?

Es gibt sehr viele Möglichkeiten, die Menschen zu erreichen. Das Problem ist, dass unterschiedliche Institutionen nicht ausreichend zusammenarbeiten. Es gibt Projekte wie „bewegte Schule”, da machen aber nicht alle Schulen mit. Die Schule ist ja ein wichtiger Lebensbereich für Kinder. Wenn wir es schaffen würden, dass die Lebenswelten von Kindern stärker verzahnt wären, könnten wir viel mehr erreichen. Das lässt sich gut am Beispiel Schule und Familie verdeutlichen: Wenn Eltern ihren Kindern beibringen, dass es besser ist, Wasser statt Brause zu trinken und in der Schule ein Wasserspender steht, dann greifen die Lebenswelten ineinander über und das Verhalten wird nachhaltiger gefestigt. Das zu erreichen ist aber gar nicht so leicht, weil wir nicht nur verschiedenen Zielgruppen klar machen müssen, warum das wichtig ist, sondern auch erörtern müssen, wie sie zusammenarbeiten können. Außerdem stehen wir immer in Konkurrenz zu anderen Verhaltensweisen. Viele Eltern wollen lieber, dass ihre Kinder weniger Zeit vor dem Bildschirm verbringen und achten darauf, da fällt das Thema der Getränkewahl dann unter den Tisch, weil das einfach eine niedrigere Priorität hat. Bei Erwachsenen könnten die Arbeitgeber mehr auf betriebliche Gesundheitsförderung setzen. Dafür müssen sie aber wissen, welche Möglichkeiten es überhaupt gibt und wie sich diese am besten umsetzen lassen. Da müssen also Forschung und Krankenkassen mit den Arbeitgebern reden. Eine Option sind etwa Gutscheine für naheliegende Fitnessstudios oder, noch besser, den Sport direkt in die Arbeitsstätte integrieren, also Mitarbeitern die Möglichkeit geben, vor Ort Sport zu treiben, etwa mit Laufgruppen oder im Fitnessraum. Aber es gibt noch viel mehr Bereiche, in denen wir ansetzen könnten, die Stadtplanung spielt beispielsweise auch eine Rolle.

Welchen Einfluss hat denn die Stadtplanung?

Wir sehen oft, dass es in einer Stadt, bezogen auf die Anzahl der Menschen, die dort leben, zu wenig Möglichkeiten gibt, sich spontan und angenehm zu bewegen. Das geht so weit, dass sich Menschen in der Stadt oft einsamer und gestresster fühlen als auf dem Land, obwohl sie dichter aufeinander leben. Deswegen müssten Städte Begegnungsmöglichkeiten schaffen und so gebaut werden, dass sie Aktivität und Kontakte zulassen. Als Kontakt zählt bereits ein kurzer Gruß, es hilft sogar, einfach nur andere Menschen zu sehen, damit wir uns besser fühlen. Ein Punkt, den viele bereits umsetzen, ist die Wegplanung. Wenn eine Stadt Wege schafft, auf denen Menschen ungestört zu Fuß gehen oder Fahrradfahren können, wird das auch genutzt und führt so ganz natürlich zu mehr Bewegung und Kontakten. Außerdem konnten wir zeigen, dass mehr Grünflächen ebenfalls dazu beitragen, dass Menschen sich besser fühlen. Es gibt viele weitere Möglichkeiten, eine Idee ist beispielsweise, dass Städte mehr halbrunde oder geschwungene Parkbänke aufstellen. Das bewirkt, dass die Menschen dort nicht alleine sitzen und sich dadurch eher integriert fühlen. Außerdem hilft es, wenn Points of Interest eingerichtet werden, also Orte, an denen Menschen sich gerne aufhalten. Das können etwa ein Abend- oder Flohmarkt sein. Dort kommen die Menschen an den Ständen ins Gespräch und treffen sich so, ohne dass sie sich gezielt verabreden müssen.

Wie hat sich die Aktivität in der Gesellschaft in den letzten Jahren entwickelt?

Wir sind inaktiver geworden, nicht nur in Deutschland. Es gibt weltweit Studien, dass die Inaktivität in den Industrienationen und der westlichen Kultur hoch ist und gleich bleibt oder steigt, obwohl es mehr Bewegungsangebote gibt. Es gibt zwar viele Initiativen für mehr Bewegung, diese sorgen aber nicht dafür, dass sich Menschen wirklich mehr bewegen. Das beobachten wir auch bei Kindern und Jugendlichen, da sind etwa die motorischen Fähigkeiten wie Balancieren und Rückwärtslaufen eher zurückgegangen. Ich kann nicht genau sagen, woran das liegt, glaube aber, dass es mit weniger Bewegung im Alltag zusammenhängt. Die Kinder früher haben auch nicht bewusst balancieren geübt, aber bei der täglichen Bewegung und aktiven Spielen haben sie diese Fähigkeiten automatisch geübt. Wenn das Aktivitätslevel allgemein sinkt, gibt es natürlich auch weniger Situationen, in denen das geübt wird.

Warum sinkt das Aktivitätslevel?

Das ist eine gute Frage, wer die beantworten kann, sollte den Nobelpreis erhalten. Dafür gibt es so viele Gründe, dass es schwer ist, das alles zu erfassen. Die Mediennutzung steigt, das ist natürlich ein Grund, außerdem vermute ich, dass viele Effekte verpuffen. Empfehlungen wie etwa eine bestimmte Anzahl Schritte am Tag zu gehen, kann zwar theoretisch jeder erreichen, aber nicht alle wissen, wie sie das zeitlich umsetzen sollen. Andere wollen sichergehen, dass sie es wirklich richtig machen und wollen detaillierte Anleitungen. Viele Ansätze sind außerdem auf bestimmte Zielgruppen zugeschnitten, weil natürlich je nach Zielgruppe die Strategie anders sein muss. Außerdem benötigt alles Ressourcen, viele Ideen lassen sich gar nicht flächendeckend umsetzen, weil nicht genug Geld, Material oder Unterstützung vorhanden ist.

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